Kerntopf

 

Der erste Vertreter der Familie in Warschau war Johann Alexander Kerntopf (1812–1883). Er kam 1830 aus Bromberg nach Warschau, um in der Klavierfabrik von Fryderyk Buchholtz in der Świętokrzyska-Straße 24-30 in die Lehre zu gehen. Noch im selben Jahr meldete er sich zur polnischen Armee und wurde bei Kämpfen mit den Russen schwer verletzt, die Genesung dauerte zwei Jahre. 1833 kehrte er zur Arbeit in die Werkstatt Buchholtz zurück. 1840 erhielt er seinen Meisterbrief und gründete in der Elektoralna-Straße eine eigene Flügel- und Klavierfabrik, die als eine der längsten in Polen bestand. 1853 baute und vertrieb Kerntopf den ersten Flügel nach belgischem System in Polen, 1872 das erste Modell mit Steinway-System. 1862 stellte er den ersten Flügel im Königreich Polen her, ohne dabei importierte Teile zu verwenden. 1878 trat sein Sohn Edward Konstanty Kerntopf, der in Berlin, Dresden und Leipzig in die Lehre gegangen war und viel Erfahrung als Klavierstimmer gesammelt hatte, der Gesellschaft bei. Von da an trug das Unternehmen den Namen „J. Kerntopf und Sohn”. 1881 stieg auch der zweite Sohn Henryk Kerntopf, der in den gleichen deutschen Werkstätten wie sein Bruder Edward und zwei Jahre bei der Firma Erard in Paris gelernt hatte, in den Betrieb ein und führte ab 1892 eine Filiale in Kiew. In diesem Jahr schloss sich auch der jüngste der fünf Brüder, Józef Kerntopf, der Firma an.


Unter den Nachkommen von Jan Aleksander Kerntopf arbeitete nur Zofia Kerntopf-Romaszkowa, die Tochter von Józef Kerntopf, in der Musikbranche. Sie war Pianistin und Pädagogin (u.a. 1946–1966 Klavierprofessorin an der Musikakademie Lodz). Zudem verfasste sie zahlreiche pädagogische Bücher über Klaviere, die mehrfach neu aufgelegt wurden. Die letzten männlichen Nachkommen der Familie sind zwei Enkel von Henryk Kerntopf, die Söhne von Ignacy Jan: Andrzej Kerntopf war Mitarbeiter verschiedener Abteilungen der Baufirma „Mostostal“ (u.a. 1974–1982 Vizedirektor). Paweł Kerntopf, habilitierter Informatikwissenschaftler, war außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Warschau und der Universität Lodz. Andrzej Kerntopf und seine Tochter Beata Kerntopf-Ślusarczyk besitzen authentische Pianinos der Firma „J. Kerntopf und Sohn“. (PK)

 

1872 brachte Jan Paderewski seinen 12-jährigen Sohn Ignacy aus Kuryłówka in Podolien nach Warschau und schrieb ihn am dortigen Musikinstitut ein. Dann begaben sie sich in die Miodowa-Straße zur Klavierwerkstatt der Firma Kerntopf.

 

„Der Eigentümer der Firma, der alte Herr Kerntopf, war ein überaus sympathischer und herzlicher Mensch. Er empfing uns sehr freundlich mit den Worten: “Ich habe hier viele Flügel, aber ich weiß nicht, ob sie Ihnen gefallen werden, denn sie sind leider recht teuer.“ Natürlich dachte er sich, dass wir keine reichen Leute waren und nannte einen relativ niedrigen Preis für ein Klavier, so dass Vater nach einiger Überlegung zustimmte und beschloss, es sofort zu kaufen. Während unseres Gespräches tauchte plötzlich der älteste Sohn von Herrn Kerntopf auf. Er sah mich aufmerksam an und hörte mir zu (ich versuchte gerade auf dem frisch erworbenen Instrument zu spielen). Mein Spiel war nicht – wie man vermuten kann – fehlerfrei, aber etwas muss daran gewesen sein, denn er wandte sich sofort mit der Frage an meinen Vater: „Was für Pläne haben Sie mit Ihrem Sohn?”
Vater antwortete schnell und mit großem Stolz in der Stimme: „Er wurde gerade am Konservatorium aufgenommen, und das ohne Aufnahmeprüfung! […] Dieses Klavier kaufe ich für meinen Jungen”, sagte er zu Kerntopf. „Unsinn!“, rief der junge Kerntopf, „Sie sollten kein Klavier kaufen, das schon in einem Jahr nutzlos sein wird. Ich gebe Ihnen einen Flügel umsonst, auf dem er üben kann.“ Das war wirklich Liebe auf den ersten Blick und der Beginn einer echten Freundschaft. Damit begann das Interesse von Edward Kerntopf an meiner Person. Bereits in jenem ersten Augenblick des Kennenlernens erwies er mir, einem kleinen Jungen, eine herzliche Freundlichkeit, und bis zu seinem Tode blieb er mein ergebener Freund. So viele Jahre ist es her, dass er mir geholfen hat, er war eine glückliche Fügung in meinem Leben.
Vater, tief gerührt von seiner Güte, wandte sich nun ganz offen an die beiden Herren und sagte:
„Ich weiß wirklich nicht. Wo soll man den Jungen unterbringen? Ich würde so gern eine Familie finden, bei der ich ihn ruhigen Gewissens lassen könnte – er ist doch noch so jung. Vielleicht hätten Sie gnädiger Weise einen Rat für mich.“ […] Und wieder kam Edward Kerntopf uns entgegen.
„Lassen Sie ihn doch hier, in unserer Familie“, sagte er. „Wir sind neun Kinder, eines mehr macht keinen Unterschied. Sie können meiner Mutter ja ein paar Groschen für seinen Lebensunterhalt zahlen, wir sind ja auch nicht reich.“ Er sagte das in einer sehr herzlichen Weise.“
Ignacy Jan Paderewski, Pamiętniki (Erinnerungen), Warschau 1972, S. 56-58.

 

Paderewski versuchte sein ganzes Leben lang, der Familie Kerntopf auf vielfältige Weise zu danken. In seinen „Erinnerungen” schrieb er:

 

„Es war das Jahr 1889, die Zeit der Weltausstellung [in Paris]. Ich wurde gebeten, auf dem Ausstellungsgelände mit einem Konzert aufzutreten, was ich gerne tat. Ich erlebte damals auch eine große Genugtuung, weil ich meinem werten Freund Edward Kerntopf einen Gefallen tun konnte. Denn ich hatte ihn überredet, an der Pariser Ausstellung teilzunehmen. Es hat sich glücklicherweise ergeben, dass er dank meiner Beziehungen die Goldmedaille für seine Klaviere erhielt. Das war der glücklichste Moment in seinem Leben, mir hat es auch viel Freude bereitet. Endlich konnte ich mich zumindest zum Teil für so viel Gutes, das ich von ihm erfahren habe, revanchieren.“
Während des Zweiten Weltkrieges schickte die Paderewski-Stiftung in New York Päckchen an Ignacy Jan Kerntopf nach Warschau.


Ignacy Jan Paderewski, Pamiętniki (Erinnerungen), Warschau 1972, S. 172.
 

 

Jan Alexander Kerntopf, Gründer der Flügel- und Klavierfabrik.TWŚ

 

Hochzeitsurkunde von Johann Kerntopf und Magdalena Sądzyńska. Warschau, 1938. PK

 

Geburtsurkunde der Tochter Józef Kerntopf von 1893 (unten u.a. die Unterschrift von Edward und Józef Kerntopf). PK

 

Die Söhne von Jan Alexander Kerntopf: Henryk (links) und Józef (stehend) mit ihren Familien, um 1912. PK

 

Reklame der Niederlassung der Klavier- und Flügelfabrik „J. Kerntopf und Sohn“ in Kiew, 1914. TWŚ

 

Fotografie Ignacy Jan Paderewskis mit Widmung. PK

 

Fotografie Helena Paderewskas mit einer Widmung für Maria Kerntopf. PK

 

Paket der Paderewski-Stiftung in den USA an Ignacy Kerntopf, ca. 1941. PK

 

Die Nachkommen der Familie Kerntopf. Hintere Reihe von links: Anna Trębska-Kerntopf, Ehefrau von Andrzej, Andrzej Kerntopf, Ewa Kerntopf, Ehefrau...