Pfeiffer
Anfang des 18. Jahrhunderts kam der Handwerker Walter Pfeiffer (1712?–1796) aus Balingen in Württemberg nach Warschau und gründete 1750 in der Leszno-Straße eine Gerberei für Kalbs-, Schafs-, Ziegen- und Pferdehäute. Später gerbte er auch Rinderhäute für Schuhsohlen. Er war Mitbegründer der Warschauer Gerberzunft (1777) und heiratete die Polin Anna Wilkowicz (1724–1796). Sie begründeten damit eine Dynastie, in der das Gerberhandwerk von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Familie war evangelisch-augsburgischer Konfession. Der Sohn von Walter Pfeiffer, Jan Chrystian (1757–1841), spendete Geld für Kriegs- und Wohltätigkeitszwecke, was von seinem Pflichtgefühl gegenüber dem gewählten Vaterland zeugt. Sein Sohn Jan Henryk Pfeiffer (1789–1861) verlagerte die Gerberei in die Nowolipie-Straße und sein Sohn Stanisław Fryderyk (1819–1890) erwarb 1872 ein neues Gelände in der Smocza-Straße. Er erweiterte den Betrieb, der auf den ersten Platz unter den Warschauer Gerbereien vorrückte. Die gegerbten Lederprodukte wurden auf Ausstellungen in Moskau (1865), Petersburg (1870), Wien, Berlin und Paris prämiert.
Seine Söhne Władysław Ignacy (1854–1898) und Stanisław Leopold (1856–1929) stiegen in die Firma mit ein und übernahmen sie später. In den 1880er Jahren wurden eine Mitarbeiterkrankenkasse, eine Arztpraxis mit Apotheke, eine polnische Bücherei, eine Kinderkrippe und ein Kinderheim für 150 Kinder gegründet, in dem – versteckt vor den russischen Behörden – Polnisch unterrichtet wurde. 1914 beschäftigte die Fabrik ca. 540 Arbeiter, täglich wurden ca. 1.000 Lederstücke produziert.
Durch Eheschließungen verband sich die Familie Pfeiffer mit den Familien Temler, Herse, Szlenkier, Schiele und Gebethner. Die Familien arbeiteten zusammen, halfen sich gegenseitig und fühlten sich sehr eng mit Warschau verbunden.
Während des Ersten Weltkrieges, vor dem Einmarsch der Deutschen nach Warschau, ordneten die russischen Behörden die Deportation der Fabrik nach Russland an. 41 Waggons mit Waren und Rohstoffen sowie Geräte im Wert von 200.000 Rubel wurden abtransportiert. Die Familie Pfeiffer bemühte sich nach dem Krieg erfolglos, einen Teil des Vermögens zurückzuerhalten. Die Firma gehörte dem polnischen Verband der Gerbereiindustriellen an. Der Sohn von Stanisław Leopold Pfeiffer, Józef Mieczysław Pfeiffer (1888–1969), war in den Jahren 1918–1944 deren stellvertretender Vorsitzender bzw. Vorsitzender und setzte sich dafür ein, dass sich die Gerbereiindustrie, die vorher in die drei Teilungsgebiete unterteilt war, gemeinsam organisiert. Für seine Verdienste wurde er 1932 mit dem Ritterkreuz des Ordens Polonia Restituta ausgezeichnet.
Im Laufe der Zeit leiteten die nächsten Generationen der Familie die Firma. 1938 wurden die Söhne von Stanisław Leopold Pfeiffer, Stanisław Aleksander (1885–1963) und Józef Mieczysław (1888–1969), sowie ihre Neffen Bogdan Władysław (1911–1999) und Tadeusz Stefan (1912–1996), Eigentümer der Gesellschaft.
Im September 1939 wurde Józef Mieczysław Pfeiffer, der mit seiner Familie auf dem Fabrikgelände wohnte, zum Kommandanten der Bürgerwehr des 5. Bezirks Warschau-Nord ernannt. Er half vor allem der Zivilbevölkerung in dem Bezirk und wurde dafür 1967 mit dem Silbernen Kreuz des militärischen Verdienstordens „Virtuti Militari“ ausgezeichnet. Während der Besatzungszeit arbeitete er mit der Heimatarmee zusammen und half Juden im Ghetto, das direkt an die Fabrik angrenzte.
Während des Warschauer Aufstandes 1944 geriet die Fabrik in Brand. Józef Pfeiffer wurde zusammen mit seiner Familie zuerst ins Durchgangslager Pruszków bei Warschau, dann mit seiner Frau und der Tochter Halina ins Deutsche Reich deportiert. Nach der Vertreibung der Eigentümer requirierten die Deutschen das zurückgelassene Vermögen und die Maschinen. Laut einem Bericht der deutschen Behörden vom 10. September 1944 wurden aus der Fabrik abtransportiert: 37.247 rohe und teilverarbeitete Tierhäute, 16.000 kg Extrakte, 34.000 kg Fett, 178 Elektromotoren und 15 Waggons gegerbten Leders. Das Wohnhaus und die Fabrikgebäude wurden zerstört.
Józef, Stanisław und Tadeusz Pfeiffer bauten 1945 die Gerberei „Temler und Szwede“, die sich in der Nachbarschaft befand und der Familie gehörte, wieder auf. Nach der Verstaatlichung der Fabrik 1946 arbeitete Józef Pfeiffer noch bis 1948 als Verwaltungsdirektor. Sein 2003 erschienenes Buch Erinnerungen eines Warschauer Industriellen enthält viele Informationen über die Geschichte der Familie und des Warschauer Gerbereigewerbes.
Nach dem Krieg ging Aleksander Pfeiffer in Rente. Bogdan Pfeiffer wurde nach Bromberg delegiert, um dort die Gerberei von Ludwig Buchholz in Betrieb zu nehmen, anschließend arbeitete er in der Nationalen Wirtschaftsbank (BGK) in Warschau. Tadeusz Pfeiffer emigrierte nach Brasilien, während sein Bruder Jan Wacław Pfeiffer (geb. 1918) in den USA blieb, wohin er vor Kriegsausbruch zur Weltausstellung in New York als Vertreter des polnischen Gerbereiwesens gefahren war.
Ein großer Teil der Familie wohnt in Warschau, u. a. die Töchter von Józef Pfeiffer: Die Buchhändlerin Halina Pfeiffer-Milerowa (geb. 1919) arbeitete während der deutschen Besatzung im Antiquariat von Jan Gebethner, nach 1945 gründete sie eine eigene Buchhandlung in der Marszałkowska-Straße und arbeitete später in staatlichen Verlagen. Krystyna Pfeiffer-Malczewska (geb. 1922) ist Ingenieurin. Zudem leben in Warschau die Tochter von Bogdan Pfeiffer, die bildende Künstlerin Barbara Pfeiffer-Kadlewicz (geb. 1937), und die Enkelin von Józef Pfeiffer, Maria Chrząszcz--Jarecka (geb. 1939) mit ihrer Tochter Dorota Jarecka (geb. 1966), Kunsthistorikerin und Journalistin bei der „Gazeta Wyborcza“, sowie den Enkeln Wanda (geb. 2001) und Barbara (geb. 2007).
An der Stelle der Gerberei der Familie Pfeiffer, deren Überreste Anfang der 1990er Jahre abgerissen wurden, befindet sich heute das Einkaufs- und Bürozentrum „Klif“. (MJ)