Szlenker

 

Die Familie Schlenker stammte aus dem Schwarzwald und war im 17. Jahrhundert, während des Dreißigjährigen Krieges, nach Polen eingewandert. Sie ließ sich in Thorn nieder und betrieb dort eine Gerberei. Im 19. Jahrhundert polonisierte sie den Familiennamen von Schlenker zunächst zu Szlenker, und schließlich zu Szlenkier.


Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zogen die Brüder Samuel Gotthilf (1776–1820), Jakub Gottlieb (1778–1809) und Jan Karol (1780–1826) nach Warschau. Nur Jan Karol und seine Ehefrau Elżbieta Rozyna Schussler hatten Kinder: zwei Söhne – den Gerber Jan Karol (1811–1873) und den Kaufmann Franciszek Ksawery (1814–1871) sowie die Tochter Emilia Elżbieta (1812–1831).


Im politischen Leben Warschaus zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der jüngere Sohn Jan Karol Szlenkiers der bedeutendste Vertreter der Familie. Franciszek Ksawery, von Beruf Stoffhändler, war Vorsitzender der Warschauer Kaufmannsvereinigung, Richter am Handelstribunal und Vorsitzender des Kirchenkollegs der evangelisch--augsburgischen Gemeinde in Warschau. Nach den tragischen Ereignissen vom 27. Februar 1861, als das russische Heer auf den Straßen Warschaus die Teilnehmer einer patriotischen Demonstration beschoss, war Franciszek Ksawery Szlenkier eines der vier Mitglieder der Städtischen Delegation. Diese Gesandschaft der Einwohner Warschaus richtete am 28. Februar 1851 einen Protest an den Zaren gegen die Ereignisse vom Vortag, als fünf unschuldige Warschauer Bürger durch russische Kugel starben. Bis zum 4. April übte die Delegation faktisch die Herrschaft in der Stadt aus und verhinderte so einen bewaffneten Aufstand der Einwohner. Ksawery Szlenkier (er benutzte seinen zweiten Vornamen) war weiterhin in der Konspiration engagiert. Im Frühjahr 1862 wurde er verhaftet und zu einer viermonatigen Haftstrafe in der Festung Modlin verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis arbeitete er mit der geheimen Militärischen Abteilung der Nationalregierung zusammen. Während des Januaraufstands 1863/1864 war er Vorsitzender der Revolutionären Steuerkommission. Da ihm eine erneute Verhaftung drohte, überschritt er im Oktober 1863 illegal die Grenze zu Preußen und gelangte über Aachen nach Paris. Er war Mitbegründer der Polnischen Bibliothek in Paris und der Gesellschaft für Wissenschaftshilfe, die polnische Studenten im Ausland finanziell unterstützte. Er starb 1871 in Nizza und wurde auf dem Friedhof Pere-Lachaise in Paris beerdigt.


Seine beiden Söhne, Franciszek Ksawery jr. und Józef Władysław, nahmen ebenfalls aktiv am Januaraufstand teil. Franciszek Ksawery jr. (1843–1873) ging später gemeinsam mit seinem Vater nach Paris. 1871 kehrte er unter dem Schutz der russischen Botschaft nach Warschau zurück, wurde aber verhaftet und 1872 in das Gouvernement Olonez verbannt. Er starb am 4. Mai 1873 im russischen Kargopol.


Józef Władysław Szlenkier (1844–1893) arbeitete mit dem Nachrichtendienst der Militärischen Abteilung der Nationalregierung zusammen und kämpfte in der Einheit der Aufständischen unter Major Juliusz Nadmiller als dessen Adjutant. Er nahm an Gefechten mit der Russischen Armee bei Rawa und Życk teil. Im Dezember 1863 geriet er in Gefangenschaft und wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, sein Vermögen wurde konfisziert. In Sibirien heiratete er eine Lehrerin, die Schottin Katarzyna Campbell, durch deren Fürsprache er begnadet wurde und nach Großbritannien ausreisen durfte. Gegen Ende seines Lebens kehrte er nach Warschau zurück. Er starb kinderlos.


Karol Jan Szlenkier (1839–1900), dem Sohn des Gerbermeisters Jan Karol und seiner Ehefrau Anna geb. Temler, gebührt ein Ehrenplatz in der Geschichte der Warschauer Industrie. Die von den Eltern geerbte Gerberei in Leszno baute er mit Talent und Ausdauer zu einem florierenden Unternehmen aus. 1871 nahm er seinen jüngeren Bruder Jan Józef (1848–1910) als Gesellschafter auf, seitdem firmierte die Firma unter der Bezeichnung „Gebrüder Szlenkier“. 1875 errichtete er eine neue Fabrik in Berdyczów in der heutigen Ukraine, die sich in beeindruckender Weise entwickelte und äußerst rentabel war. Vor dem Ersten Weltkrieg deckte die Produktion der Gerberei in Berdyczów ein Fünftel des Lederbedarfs der Russischen Armee.


1889 gründete Karol Jan Szlenkier gemeinsam mit Stanisław Wydżga und Weyer eine Gardinen-, Tüll- und Spitzenfabrik an der Dzielna-Straße. Die Maschinen und die Spezialisten zu ihrer Bedienung stammten aus England. Bald war der Betrieb Branchenführer und beschäftigte im Jahr 1913 etwa 500 Arbeiter. Karol Jan Szlenkier war aber nicht nur ein energischer Unternehmer, sondern auch ein gesellschaftlicher Aktivist und Philanthrop.


1880 gründete er auf dem Fabrikgelände eine Handwerkschule mit drei Klassen für die Kinder seiner Arbeiter. Zudem führte er eine Altersvorsorge, eine Krankenkasse und ein Prämiensystem für langjährige Mitarbeiter ein. Ein solches Verhältnis eines Fabrikanten zu seinen Arbeitern war im 19. Jahrhundert eine Seltenheit. Karol Jan Szlenkier war auch ein Mäzen der polnischen Kunst. Insbesondere schätzte er das Werk des Malers Wojciech Gerson. Er unterstützte die Aktivitäten der Warschauer Gesellschaft zur Förderung der Schönen Künste „Zachęta”.


1881 erwarb er ein Grundstück am Zielony-Platz (dem heutigen Dąbrowski-Platz) und ließ dort ein ansehnliches Wohnhaus für sich und seine Familie errichten, das seinem Vermögen und gesellschaftlichen Status entsprach. Für die architektonische Gestaltung schrieb er einen Wettbewerb aus, den der Architekt Witold Lanci mit seinem Entwurf gewann. Das Palais nahm stilistisch auf die römische Renaissance Bezug. Die Bauarbeiten wurden 1883 beendet, für die Innenausstattung zeichneten bekannte zeitgenössische Künstler und Handwerker verantwortlich, darunter die Maler Wojciech Gerson und Antoni Strzałecki sowie der Bildhauer Pius Weloński. Karol Jan Szlenkier starb im Jahr 1900 und wurde auf dem evangelisch-augsburgischen Friedhof in Warschau beerdigt.


Die Warschauer Residenz diente der Familie Szlenkier bis zum Verlust der Fabrik in Berdyczów infolge des polnisch-sowjetischen Krieges. Angesichts des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs beschlossen die Erben Karol Jan Szlenkiers 1922, das Palais an das Königreich Italien zu verkaufen, das dort seine diplomatische Vertretung einrichtete. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude beschädigt, nach dem Krieg wieder aufgebaut und dient bis heute als italienische Botschaft.


Der Zweite Weltkrieg und die Zerstörung Warschaus bedeuteten auch das Ende des einst unüberschaubaren Vermögens der Familie Szlenkier. Karol Jan Szlenkiers Sohn Karol Stanisław (1884–1944), Schüler des berühmten Professors Wilhelm Röntgen, Doktor der Physik und der Mathematik sowie Industrieller, wurde in den ersten Tagen des Warschauer Aufstands im August 1944 von den Deutschen in der Szuch-Allee erschossen. Wenige Tage später wurde auch seine Frau Halina, geb. Pfeiffer von den Deutschen ermordet.


Der Sohn von Karol Stanisław, Tadeusz Karol (1917–1998), war während des Krieges Pilot der Royal Air Force in der 308. Jagdflieger-Division „Krakau“ in Großbritannien und blieb auch nach dem Ende des Krieges im Exil. Er war unter anderem Chef des Projektbüros von British Aerospace in Hatfield und Chef der Entwicklungsabteilung bei Airbus in Toulouse.


Der zweite Sohn von Karol Stanisław, Ksawery Mieczysław Szlenkier, nahm als Mitglied des Regiments „Baszta“ der polnischen Heimatarmee am Warschauer Aufstand teil und wurde schwer verletzt. 1945 übernahm er einen von den Großeltern Pfeiffer geerbten Bauernhof im Dorf Radachówka. Er betrieb dort in Kooperation mit der Genossenschaft „Skala“ eine Werkstatt für Vermessungsgeräte und baute eine industrielle Geflügelzucht auf. Das denkmalgeschützte Landhaus in Radachówka befindet sich bis heute im Besitz der Familie Szlenkier.


Der Bruder von Ksawery Mieczysław, Karol Ksawery Wojciech, kämpfte ebenfalls im Warschauer Aufstand. Nach dessen Niederschlagung gelangte er in das deutsche Kriegsgefangenenlager Stalag X B Sandbostel. Nach seiner Befreiung hielt er sich in Frankreich und Belgien auf, wo er sein Handelsstudium beendete. 1950 kehrte er nach Warschau zurück und heiratete 1953 Anna Podhorska. Er arbeitete für staatliche Handelsunternehmen und starb 1993. Das Ehepaar hatte zwei Söhne, Karol und Stanisław, sowie eine Tochter, Zofia. Karol besuchte nach dem Abitur eine Berufsschule für Lebensmittelindustrie und ist als Fahrlehrer tätig. Sein Bruder Stanisław studierte an der Warschauer Landwirtschaftshochschule, er ist Ingenieur für Gartenbau und im Immobilienmanagement tätig. Die Schwester Zofia Anna ist Absolventin der Warschauer Hochschule für Planung und Statistik und heiratete 1976 den Zootechniker Jan Maria Żółtowski. Der Sohn Karols, der Tenor Tadeusz Karol Szlenkier, debütierte in der Staatsoper in Krakau und ist derzeit Solist an der Opera Nova in Bromberg. Der Sohn und die Schwiegertochter von Stanisław Karol, Ksawery Stanisław und Małgorzata Szlenkier, geb. Buczkowska, sind Theater- und Filmschauspieler.
 

 

Karol Jan und Maria Szlenkier, geb. Grosser. SSz

 

Die Geschwister Szlenkier, Kinder von Karol Jan und Maria: Karol Stanisław Szlenkier, Zofia Szlenkier, Wanda - Ehefrau von Prof. Ignacy...

 

Karol Stanisław Szlenkier, ermordet 1944 in der Szuch-Allee in Warschau. SSz

 

Halina Szlenkier, geb. Pfeiffer, ermordet 1944 in der Szuch-Allee in Warschau. SSz

 

Szlenkier-Palais heute. SSz

 

Tadeusz Szlenkier vor seinem abgeschossenen FW 190 A-8, Luftschlacht über Gent (Belgien), 1. Januar 1945. SSz

 

Besuch im Szlenkier-Palais (heute italienische Botschaft), auf dem Sofa sitzen u.a. (von links): Zofia Żółtowska, geb. Szlenkier, Teresa Gadomska,...

 

Karol Bolesław Szlenkier mit seiner Familie, stehend von links: Józefina, geb. Sikorska, Tadeusz Karol, Małgorzata, geb. Nostiz Jackowska. SSz

 

Familie Szlenkier vor dem Haus in Radachówka, von links: Ksawery Stanisław, Maria, geb. Rozmanith, Franciszek Ksawery – Sohn von Ksawery Stanisław...